Focus-Text Ausgabe 44 / 2000

Welle um Welle, klebrig und zäh, schwappt in die Augen, rinnt in die Ohrmuschel, tropft in den vor Anstrengung aufgerissenen Mund. Der Schlamm ist überall, auch zwischen den Zähnen. Sie sehen aus, als faulten sie. Rainer Friedrich, 40, wischt sich mit lehmverkrustetem Handschuh über das Gesicht, spuckt Erde, rammt eine Eisenstange in den Boden. Er lehnt sich gegen das Eisen, mit ganzer Kraft, und reißt den Untergrund auf. Bohrt die Arme in den Boden, schaufelt Dreck mit den Händen. Von oben rasseln kleine Wasserfälle, wenn der Fels überhängt, direkt in Friedrichs Kragen. Es ist Freitagabend gegen Mitternacht. Zwei Stunden zuvor hatte der Mann aus dem Schlammloch in Anzug und Krawatte noch den Chor der neuapostolischen Gemeinde Singen dirigiert. Das "Gott ist mein Licht" war kaum verklungen, da verließ Rainer Friedrich den Kirchenraum und hastete zu seinem Wagen, lenkte ihn aus den Lichtglocken der Städte und Dörfer, fuhr in die Dunkelheit einsamer Waldwege. Er bog hier ab, bog dort ab und kam vor einem riesigen Loch in der Landschaft zum Stehen. Am Grunde dieses Loches flackerten Dutzende von Lampen, wie ein Schwarm Glühwürmchen, angezogen von der Tür eines Steinhäuschens: der Eingang zum größten Abenteuer der deutschen Höhlenforschung. Sie sind der Tiefe verfallen. Mehr als 350 Menschen haben in den vergangenen zehn Jahren Dreck gegraben, Steine gebrochen, Fels gesprengt. Sie sind mittlerweile 78 Meter unter der Erde, haben in Feierabendarbeit ein ausgedehntes Bergwerk geschaffen, mit Schwindel erregenden Schächten, geräumigen Hallen und unterirdischer Telefonzentrale. Jeden Freitag ab acht Uhr abends quälen sich Friedrich und seine Mitstreiter weiter ins Erdreich, einen halben Meter, einen Viertel Meter, vielleicht auch nur wenige Zentimeter. "Wir sind Wegbereiter für nachfolgende Generationen", sagt Friedrich, und seine Stimme klingt ein wenig feierlich. Die Männer suchen weder Bernstein-Zimmer noch Diamanten. Sie wollen ein Rätsel der Geologie lösen, suchen die "schwarze Donau"", verborgen in den Bergen des Hegaus. 13 Kilometer nördlich der Grabung, zwischen Immendingen und Fridingen, trifft die (noch) blaue Donau auf die löslichen kalke der Schwäbischen Alb. An mehreren Stellen Versinkungsstellen verschwindet ein Großteil des Wassers und fließt im Untergrund weiter, nun nicht mehr nach Osten, Richtung Schwarzes Meer, sondern nach Süden. Nach einer 20-stündigen Reise durch die Tiefe tritt das Wasser in der Aachquelle, der größten Deutschlands, wieder aus. Von dort fließt sie in den Bodensee und über den Rhein in die Nordsee. Die Freitagsbuddler vergleichen ihre Arbeit gerne mit der Entdeckung eines neuen Kontinents. Die unterirdische Donau habe riesige Hohlräume geschaffen. Jedes Jahr löst sie 4730 Kubikmeter Kalkstein, das sind 11 350 Tonnen. Die optimistischen Donausucher rechnen daher mit einem 200 Kilometer langen System aus Tropfsteinkathedralen, zerklüfteten Kristallgängen und reißenden Flussläufen. Selbst Friedrich, der die Dinge sonst eher nüchtern betrachtet, kommt da unweigerlich ins Schwärmen: "Wir werden Schlauchboot fahren, kilometerweit." Der Chorleiter hat in 75 Meter Tiefe seine Metamorphose vollendet. Wo das Gesicht war, gleißt jetzt der Lichtkegel seiner Helmlampe. Wo der Vollbart wuchs, hängen Lehmbatzen. Den Anzug hat er in einen wasserdichten Schlaz umgetauscht, er lacht "mein Ganzkörperkondom". Licht und Lehm machen hier unten alle uniform. Nur an seiner sonoren Stimme ist Friedrich noch klar zu erkennen. Neben ihm gräbt der Steuerfachangestellter Rudolf Martin, 44, wie ein Berserker. Früher wollte er Berufsmusiker werden, Rock-Gitarrist. Die wallenden Haare trägt er noch, auch hat er noch den melancholischen Glanz in den Augen, an Karriere-Durchbruch glaubt er jedoch längst nicht mehr. Er glaubt jetzt an den Durchbruch zur Donauhöhle. Den Hall ihres vereinten Ächzens hört Polizeiobermeister Frank Gerling, 32. Er steht neun Meter über ihren Köpfen, zieht an einer Winde volle Eimer nach oben und lässt leere Eimer nach unten. Einklinken, Ausklinken, Einklinken, Ausklinken - das Tempo ist hoch. Er will vorankommen. "Ich werde nicht jünger", scherzt Gerling, der Höhlentauchkurse belegt, damit er der schwarzen Donau in jede Verklüftung folgen kann. Hinter ihm hetzen fünf weitere Männer durch Schächte und Gänge. Bis tief in die Nacht wird geschuftet, den Samstag reservieren sich die müden Gräber fürs Ziehen und Zerren, den Sonntag für die Familie. Die Bewohner des Hegaus hatten schon vor Jahrhunderten einen Zusammenhang zwischen der Versinkung und der 14 Kilometer entfernten Aachquelle vermutet. Nachgewiesen wurde die unsichtbare Verbindung erst 1876. Ein neugieriger Unternehmer, der mit der Kraft der Aach eine große textilfabrik betrieb, kippte 200 Zentner Kochsalz in die Sickerspalten. Schon 20 Stunden später schmeckte die Aachquelle salzig. Zehn Jahre später, 1886, wollte ein Mensch die schwarze Donau erstmals persönlich in Augenschein nehmen. Modernste Technik wurde am Aachtopf aufgefahren, ein Helmtaucher sank in den Quellschlund, der erste Höhlentauchgang der Welt, und schaffte stolze zwölf Meter. Viel weiter kamen zunächst auch die Taucher des 20. Jahrhunderts nicht. Erst 1962 bewältigte ein Taucher aus Darmstadt 60 Meter. Doch die Expedition endete in einem Drama: Sein Begleiter ertrank. Ein weiteres Opfer forderte die Höhle 1979, als ein Forscher schon im Eingangsbereich in Panik geriet und an Herzversagen starb. Die Tauchfahrten zur schwarzen Donau sind lebensgefährlich geblieben. Einer der wenigen, der sie wagt, ist der gelernte Finanzbeamte Harald Schetter, 56. Seit 22 Jahren ist die Donauhöhle seine Passion. Zweimal ist er bei seinen Forschungen verunglückt, zweimal landete er mit Lähmungserscheinungen in der Druckkammer des Überlinger Krankenhauses. Die Höhle belohnt solchen Einsatz nicht. Etwa einen halben Kilometer weit im Berg stoppt sie den Taucher mit einer gewaltigen Schuttbarriere. Also entschloss sich Schetter zu einem wahnwitzigen Unternehmen. Wo unterirdisch der Gang in sich zusammen gebrochen ist, klafft oberirdisch die "Tiefe Grube", ein 200 Meter langer Dolinenkrater. An dessen nördlichen Rand, Richtung Donauversinkung, setzte Schetter 1990 den Spaten an. Sein Plan war, die 95 Meter zwischen Kraterboden und Flusshöhle abzugraben und so das unpassierbare Gangstück zu umgehen. "In 14 Tagen ist die Sache geschafft", warb Schetter damals um Helfer. "Ich habe gesagt, nach fünf Metern sind wir im System. Ich musste ja die Leute motivieren." So phantastisch die Idee schien, so populär wurde sie in Aach und Umgebung. Nach einem Jahr und vier Meter Tiefe stieß Friedrich zu der Gruppe, seitdem führt er genauestens Buch: 352 Menschen aus der Region Hegau haben einmal oder mehrfach an Grabungen teilgenommen. Ärzte, Geisteswissenschaftler, Müllmänner. "Nur die Frauen halten sich noch zurück", klagen die Männer im Tiefenrausch. Unten fehlen Bretter, und wieder einmal ist die Telefonanlage ausgefallen. "Sechs Telekomler arbeiten bei uns mit, und nie tut das Telefon!" schnaubt Friedrich, hauptberuflich Telekomler, und beginnt den mühsamen Aufstieg. Er klettert an den Wasserfällen im Vortriebsschacht vorbei, läuft durch einen holzverhauenen Quergang, steigt dann mehrere kleinere Schächte nach oben, zur Winde zwei. Dort beginnt die Seilbahn, die eine 30 Meter lange Schrägstrecke überwindet und den Materialtransport erleichtert. Früher hatten die Gräber hier eine handgebastelte Bergwerksbahn mit Lore, doch die verfaulte. Friedrich nimmt sich während des Aufstieges vor den Eimern in Acht, sie surren scharf an seiner Schulter vorbei. Die Seilbahn endet in der "Grauen Halle". Die bisher einzige Entdeckung der zehnjährigen Grabung, 38 Meter lang, zwei Meter hoch. Hier richteten die Donausucher ihr Basislager ein. Karl-Heinz, von Beruf Zugführer im Regionalverkehr, steht gerade an der Betonmischmaschine. "Wir brauchen Bretter!" sagt Friedrich. Doch Karl-Heinz hat es heute im Kreuz. Also muss Friedrich weiter, in die Hocke, auf die Knie, durch einen niedrigen Stollenverhau, über schräge Stahlleitern die nächsten Schächte hinauf. Muss nach einem Strick greifen, um sich von dort auf eine Plattform zu hieven. Weitere zwanzig Meter in einem neonbeleuchteten Betonschacht, der aussieht, als gehöre er zur städtischen Kanalisation, und er erreicht die Basisstation am Dolinengrund. Davor liegen die Bretter. Friedrich steht unter Sternenhimmel und atmet durch. Zehn Jahre Arbeit, wie sie zur Zeit der Pharaonen nicht hatte schlimmer sein können, zehn Jahre Entdeckertum ohne Entdeckungen. Wenn ein Stollen zusammenbricht, kündigt sich das mit einem gewitterhaften Donnern an. Oder auch nicht. Manchmal spuckt der Berg ohne Vorwarnung Schlamm und Geröll. Den Risiken des Bergbaus begegneten die Donausucher früher mit Glück, heute mit Knowhow. "Logik, alles Logik", sagt Friedrich. "Nicht zu tief graben ohne Betonverbauung. Keine alten Stützbalken absägen, ohne sie vorher neu abzustützen." Je tiefer die Hegauer aber kommen, desto mehr quält sie eine grundsätzlichere Frage: "Wenn wir nur zwei Meter mehr nach links oder rechts gegraben hätten, vielleicht", sinniert Martin, "wären wir längst durch. Graben wir überhaupt an der richtigen Stelle?" Alle paar Jahre fallen die Suchenden daher in tiefe Depression. "Jetzt sprengen wir das einfach!" hat selbst der unerschrockene Schetter schon einmal gerufen. Überall zweigen im Schacht Sackgassen ab, mühevoll ausgegraben, schweren Herzens wieder aufgegeben. Doch die Gruppe baut sich immer wieder gegenseitig auf. "Das hat man mal angefangen, das muss man zu Ende bringen, sonst war alles umsonst", sagt Martin. "Du musst bei dieser Arbeit abschalten, du darfst nicht zu viel erwarten, dann bist du auch mit deiner Arbeit zufrieden." Als vor einem Jahr die Moral der Freitagsgräber abermals auf dem Tiefpunkt war, wollten sie endlich Gewissheit haben: Schetter pumpte 700 Liter Wasser mit zehn Gramm rotem Sulfarbodamin in den Schachtboden. Ein Doktorand der geologischen Fakultät Freiburg wartete an der Quelle - nach 30 Minuten färbte sie sich rot. Schetter ist begeistert: "Wir sind direkt darüber! Wir können die Donau nicht mehr verfehlen!" Bessere Methoden, die schwarze Donau zu orten, gibt es nicht. Selbst modernste Seismik versagt. Die Bretter sind jetzt da, aber der Beton ist zu dünn. "Zu viel Wasser!" brüllt Friedrich. "Zu viel Wasser!" brüllt Gerling. "Haallohoo, zu viel Wasser!" brüllt das nächste Glied der Eimerkette. Immer wieder gibt es im Hegauer Untergrund Diskussionen um die richtige Betonmischung. "Wir sind ja fast alle Sesselfurzer", entschuldigt Steuerfachgehilfe Martin handwerkliche Unsicherheiten. Ab und an berät das Freiburger Bergamt, da hat Martin einen Bekannten. Bisher hielt alles. "Kein Rissle, keine Setzung, gar nichts!" Die Euphorie der Donausucher hat längst auch das Aacher Rathaus erfasst. "Es kann uns nichts Besseres passieren", übt sich Bürgermeister Pirmin Späth in Vorfreude. Sollte die Donau gefunden werden, dazu prachtvolle Tropfsteinhallen, möchte Späth, dass den Forschern möglichst viele Touristen folgen. Der Verwaltungschef, privat ein Klaustrophobe, unterstützt die Donausucher daher finanziell, will auch die Kosten für eine touristischen Erschließung teilweise übernehmen. "Ich finde es sehr reizvoll, man muss versuchen, die Dinge zu lösen." Die Quelle als Einnahmequelle hatten die Aacher schon immer im Blick. Fast jedes Haus war hier auch eine Mühle. Der versunkenen Donau haben die Aacher zu verdanken, dass ihre kleine Siedlung von den Habsburgern das Stadtrecht bekam, sie zu einen der ersten Industriestandorten im Hegau zählten. Doch so sehr die Aacher vom Wasserreichtum profitierten, so sehr litten die Donau-Anlieger unterm Wasserschwund. Immer wieder versuchten sie den Fluss aufzuhalten, mit Sandsäcken, Steinen, Reisig, die sie in die Abflüsse stopften. Als sich die Attacken auf die Karstklüfte häuften, kaufte ein Aacher Papierfabrikant die Donau-Mühlen einfach auf und legte sie still. Den Aachern baute er daraufhin eine Brücke über der Quelle, eine Art Triumphbogen, mittlerweile Tummelplatz für Liebespaare. Der letzte Versuch, die Quelle auszutrocknen, liegt nur 15 Jahre zurück. Baden-Württemberg und Bayern hatten damals beschlossen, das Donauwasser gerecht aufzuteilen und bei Trockenheit den Fluss über Stichkanäle um die Versinkung herumzuleiten. "In Aach die Quelle einschränken, das hieße den Kölnern ihren Dom abtragen", entsetzt sich Bürgermeister Späth noch heute. Die Hegauer, sonst ein eher in sich gekehrter Menschenschlag, trommelten zum Widerstand gegen den "schwäbischen Wasserraub" und zogen vors Stuttgarter Wasserministerium. Drohend schütteten sie dort Aachwasser aufs Pflaster - was seine Wirkung nicht verfehlte. Das Verwaltungsgericht Mannheim ließ den Bau der Umleitungskanäle zwar zu, setzte die Hürden hierfür aber so hoch, dass die Schleusen noch nie geöffnet wurden. "Was gibt es Neues?" brüllt Windenmann Gerling ungeduldig in die Tiefe. Seit einer halben Stunde ist er ohne Nachricht von unten. Dumpf dröhnen die Stimmen der Grabenden hinauf. Der Schlamm scheint endlich überwunden, Friedrich und Martin haben es immer häufiger mit großen Felsbrocken zu tun. Die zertrümmern sie mit einem Vorschlaghammer. "Ein gutes Zeichen", ruft Friedrich. Auch die Luft scheint besserer geworden. Harald Schetter geht während seiner Vortriebsschichten immer häufiger auf die Knie und schnüffelt in frisch angegrabenen Spalten. Er meint, möglicherweise Donauwasser riechen zu können. Das stinkt nach Kläranlage. Rudolf Martin hat noch keine Kläranlage in der Nase. Er wummert den Hammer auf einen zwei Meter langen Felsbrocken, einmal, zweimal, nimmt Schwung zum dritten Schlag, zögert, und öffnet kraftlos die Hand. Der Hammer fällt. Der 44-Jährige lehnt sich an die Wand. "Scheiß Wasser", murmelt er müde. Die Rinnsale von oben spülen derweil weiße Flecken auf Martins Wangen frei. Zwei Stunden nach Mitternacht: Am Grund der Doline öffnet sich eine Stahltüre, ein Lichtbalken fällt in den Buchenwald. Mit krummen Rücken trotten sie heraus. Die Bürokaufleute, Polizisten, Finanzfachleute werden noch eine Weile in ihrem Bauwagen sitzen, unter Pin-up-Girls und Höhlenplänen, und Gulaschsuppe von "Ede" löffeln. "Wenn wir jetzt wüssten, wie tief wir noch gehen müssen, würden wir es vielleicht sein lassen." Sagt Martin ins Schmatzen hinein. Die Lehmgesichter grinsen flüchtig, einzelne kratzen Dreck aus den Ohren. Der zwickt. [Aktuelle Berichte vom Vortrieb gibt es unter der automatischen Ansage der Höhlen-Hotline: 07731-984898.]